Es ist doch erstaunlich: In sämtlichen Lebensbereichen etabliert sich technischer und digitaler Fortschritt und die breite Masse der Bevölkerung macht ihn sich beruflich wie privat zunutze. Aber ausgerechnet in einigen Hausarztpraxen wird vehement an den "alten Werkzeugen" festgehalten. Dabei können viele der neuen digitalen Tools eine echte Entlastung und Unterstützung bieten. Wir haben mit Iris Schluckebier, Praxisberaterin vom PKV-Institut, über ihre Erfahrungen mit der Technik-Aversion in Arztpraxen gesprochen. Sie bricht eine Lanze für die neuen technischen und digitalen Errungenschaften und erklärt, wie das ganze Praxisteam davon profitieren kann – wenn man nur den ersten Schritt wagt...

Warum tun sich immer noch so viele Praxen schwer damit, sich durch technische und digitale Tools unterstützen zu lassen? Die von der KBV beauftragte bundesweite Befragung "PraxisBarometer Digitalisierung 2022" hat den Stand der Digitalisierung bei niedergelassenen Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen beleuchtet. Hiernach sind der Umstellungsaufwand, das ungünstige Kosten-Nutzen-Verhältnis sowie die Fehleranfälligkeit der EDV-Systeme die am häufigsten genannten Faktoren (>60 %), die die weitere Digitalisierung in den Praxen hemmen [1].

Ein weiterer wichtiger Grund für die Ablehnung verschiedener E-Health-Anwendungen liegt wohl bei den Problemen mit der verpflichtenden Einführung der Telematikinfrastruktur (TI). Deren Etablierung in den Praxen lief (und läuft noch immer) sehr holprig, fehleranfällig und zeitintensiv – das hat laut Iris Schluckebier viele Praxen davor abgeschreckt, sich auf weitere, nicht verpflichtende digitale Möglichkeiten einzulassen. "Viele werfen aber fälschlicherweise alles in einen Topf. Dabei fallen unter den Begriff "E-Health" ja ebenso Entwicklungen, die mit der TI gar nichts zu tun haben und den Praxen eine reale Entlastung bringen können", so Iris Schluckebier, die im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit die Technik-Aversion in den Praxen häufig zu spüren bekommt. Als Paradebeispiel führt sie den digitalen Telefonassistenten an. Über ihn können Termin-, Rezept- und Überweisungsanfragen der Patient:innen entgegengenommen und strukturiert abgearbeitet werden. "Eine häufige Ausrede, die ich vonseiten der Praxisteams zu hören bekomme, ist, dass die Patienten hiermit nicht umgehen können oder wollen. Natürlich wollen die Patienten eine ständige Erreichbarkeit ihrer MFA am Telefon, aber das ist im stressigen Praxisalltag einfach nicht machbar. Aber Sie können als Praxisinhaber Regeln und Akzente setzen, indem Sie z.B. sagen: ‚Wir stellen heute etwas für Sie um, lieber Patient, wir gehen zwar nicht mehr persönlich ans Telefon, aber dafür sind Sie auch nicht mehr in der Dauerbesetzt-Schleife und werden stattdessen schnellstmöglich in Ihrem Anliegen zurückgerufen‘."

Digitale Tools einführen in fünf Schritten
  • Schritt 1: Das neue Tool in einer Teamsitzung präsentieren. Dabei sollen einerseits Chancen und Vorteile, andererseits aber auch Nachteile und Herausforderungen ehrlich benannt werden.
  • Schritt 2:Eine offene Diskussionsrunde, in der alle Einwände ernstgenommen und nachgeprüft werden. "Durch rechtzeitige fundierte Rücksprache mit Anbieter oder IT-Dienstleister lassen sich so viele Startschwierigkeiten von vornherein vermeiden", weiß Iris Schluckebier.
  • Schritt 3:Eine intensive Schulung durch den Softwareanbieter und/oder IT-Dienstleister. "Digitalisierung geht nicht nebenbei, man muss sich die Zeit nehmen, neue Lösungen bedarfsgerecht einzurichten und dabei alle im Team mitzunehmen", rät Iris Schluckebier.
  • Schritt 4:Information zum neuen Service an die Patientinnen und Patienten weitergeben.
  • Schritt 5:Konsequenz in der Übergangsphase, in der neben der digitalen Lösung etwa zur Rezeptausstellung auch der analoge, in dem Fall telefonische oder persönliche Weg, noch beibehalten wird: "Das ganze Team sollte Patienten immer wieder auf den neuen Service hinweisen und auch einander konsequent an den neuen Weg erinnern."
Quelle: PKV-Institut [2]

Zeit investieren, um langfristig Zeit zu sparen

Die Erfahrung der Praxisberaterin zeigt, dass sich der erste Aufwand für die Einrichtung des neuen Tools immer lohnt und bezahlt macht. Sie empfiehlt, dass sich das ganze Team z.B. einen Mittwochnachmittag gemeinsam mit der Einführung und den Funktionen beschäftigt. Das koste einmalig Zeit, die man aber nach Etablierung des Tools mehrfach zurückgewänne. Im Falle des Rezept-Anrufbeantworters liegt der Mehrwert darin, die Rezeptanfragen strukturiert, gebündelt und effizient zu bearbeiten. Viele MFAs richten sich feste Zeitfenster ein, in denen sie sich konzentriert und ungestört den Anfragen widmen. Das geht schneller und reduziert die Fehleranfälligkeit. Darüber hinaus sind die Anfragen via Anrufbeantworter häufig viel präziser, weil nicht zum "Quatschen" mit der MFA verleitet werden kann. Alle weiteren Arbeiten am Tresen können ebenfalls effizienter erledigt werden, weil sie nicht durch das ständige Klingeln des Telefons unterbrochen werden müssen. "Das Argument, das ich bei den Praxisteams immer anbringe, ist Folgendes: Ihr wünscht Euch Zeit. Wir können aus einer Stunde aber keine 70 Minuten machen, also müssen wir schauen, wo wir "Zeithelfer" für Euch finden."

Ein weiterer dieser "Zeithelfer", dessen Etablierung Iris Schluckebier empfehlen kann, ist der digitale Anamnesebogen. Ein solcher steht z.B. als App zur Verfügung und kann über einen QR-Code, der den Patient:innen bei der Anmeldung am Tresen ausgehändigt wird, auf dem Smartphone aufgerufen werden. Der Anamnesebogen wird von den Patient:innen im Wartezimmer ausgefüllt und wird dann automatisch an die Praxissoftware gesendet. Dort steht er dem Arzt im folgenden Patientengespräch am Computer zur Verfügung. Für Patient:innen ohne Smartphone oder solche, die eine entsprechende App nicht installieren möchten, kann die Praxis z.B. ein Tablet zur Verfügung stellen. Ein weiterer Nebeneffekt des digitalen Anamnesebogens: Die Anamnese wird ganz im Sinne der Anforderungen des Qualitätsmanagements dokumentiert.

Alle Möglichkeiten kennen und ausschöpfen

Während laut einer Umfrage des PKV-Instituts [2; QR-Code] 17 % der befragten Arztpraxen ein digitales Telefonassistenzsystem nutzen, ist der Zuspruch für ein weiteres digitales Tool schon etwas größer: Etwa ein Drittel (32 %) setzt bereits auf Terminbuchung via Online-Terminkalender. Doch auch dieser "Zeithelfer" stößt in einigen Praxen auf Ablehnung, obwohl – oder gerade weil – die Mitarbeitenden die Möglichkeiten, die er bietet, überhaupt nicht vollumfänglich kennen. Aber die Angst, die Kontrolle über die Terminvergabe zu verlieren, ist unbegründet, wenn man die Funktionen des Online-Terminkalenders kennt. So kann das Terminangebot an die Patient:innen z.B. nach Dringlichkeit und Dauer gefiltert werden, je nachdem, ob es sich beispielsweise um eine schnelle Impfung handelt oder um eine nicht dringende, aber zeitlich aufwendigere Vorsorgeuntersuchung. Für solche planbaren Termine werden dem Patienten dann auch nur entsprechende Zeitfenster angeboten, die ggf. erst in ein paar Wochen stattfinden können. Lange Diskussionen und die zeitfressende Suche am Telefon nach einem passenden Termin sind damit passé.

Vor allem Erstversorger profitieren

Bei der Entscheidung für ein neues digitales Tool ist bezüglich der Patientenzufriedenheit ein gesundes Abwägen angesagt. "Man kann selten 100 % der Patienten glücklich machen. Aber wenn der Hausarzt durch die Einführung z.B. eines Anrufbeantworters fünf Patienten verliert, dann war auch vorher schon etwas in der Beziehung im Argen."
Iris Schluckebier empfiehlt, dass sich insbesondere Hausarzt- und Kinderarztpraxen – die als Erstversorger einen hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwand haben und ein großes Aufkommen an nicht planbaren Terminen bewältigen müssen – durch digitale "Zeithelfer" Unterstützung suchen.



Expertin

© Privat
Iris Schluckebier

Praxisberaterin & Coach
MFA/VERAH PKV-Institut: Fachl. Beirat und Referentin, u. a. IhF/VERAH-Referentin
E-Mail: schluckebier.iris@gmail.com
Zur Umfrage des PKV-Instituts: https://t1p.de/8esui

Literatur:
1. PraxisBarometer Digitalisierung 2022 der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV); https://www.kbv.de/html/praxisbarometer.php
2. PKV-Institut: "Digitalisierung geht nicht nebenbei: Umfrage des PKV Instituts zeigt Herausforderungen für Arzt- und Zahnarztpraxen"a; https://www.pkv-institut.de/magazin/artikel/digitalisierung-geht-nicht-nebenbei-umfrage-des-pkv-instituts-zeigt-herausforderungen-fuer-arzt-und-zahnarztpraxen


Autorin
Yvonne Emard



Erschienen in: doctors|today, 2023; 3 (7) Seite 56-58